Mozart als „Wunderkind“ – die Schattenseite eines Künstlerlebens

…Was für eine schöne, unbekümmerte Kindheit, was für eine rühmliche Zeit – mit Achtung und Anerkennung in beinahe ganz Europa, mit Empfängen und Begegnungen in der High Society, mit Geld und Geschenken! Wer möchte nicht ein solches Leben haben, wer wird da nicht neidisch!... Tatsächlich waren die ersten Jahre des ganz jungen Genies Wolfgang Amadeus Mozart voller angenehmer Erlebnisse, was der unerschöpflichen Energie und Selbstaufopferung seines Vaters in erheblichem Maße zu verdanken war. Leopold Mozart erkannte die außergewöhnliche Begabung seines Sohnes sehr früh und verstand sich seitdem als dessen Förderer und Beschützer. Die Geschichte – oder besser gesagt, die Legende - von einem traumhaften Kinderleben faszinierte mehrere Generationen und animierte viele Eltern, das Leben ihrer jungen Kinder ähnlich zu planen, um ihnen einen raschen beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. In diesem Kontext sind beispielsweise die Väter von Ludwig van Beethoven und Franz Liszt zu erwähnen. Der Sonnenschein, in dessen Strahlen sich der junge Mozart eine Zeit lang befand, wirkte blendend – und ließ die Frage nach dem Preis dieses Glanzes und dessen Folgen für sein späteres Leben ein wenig außer Acht. Dabei erscheint es aber von großer Bedeutung, sich mit dieser Frage näher zu beschäftigen, denn dies wird uns ermöglichen, ein umfassenderes Bild von Mozarts Wunderkind-Jahren und deren vermeintlich vorbildlicher Rolle zu bekommen, befreit von blinder Euphorie und Überschwänglichkeit.

Die erste lange, beinahe drei Jahre dauernde Konzertreise führte den jungen Mozart durch mehrere Länder Europas, in denen er unzählige Aufführungen gab. Das klingt an sich schon sehr beeindruckend! Aber wer waren diese Leute und Kreise, in deren Mitte unser junger Künstler so berauschend empfangen wurde? Es waren vor allem Adlige – königliche Familien, Erzbischöfe, Mäzene, berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Leopold Mozart dachte zurecht, dass solche Bekanntschaften seinem Sohn zu weiteren wichtigen Schritten auf dem beruflichen Wege verhelfen und viele Türen öffnen würden. In der Tat wurde der junge Wolfgang von allen bewundert und enttäuschte seinen fleißig organisierenden Vater nicht – bestimmt ein gewichtiger Grund zur Freude und Hoffnung! Womit ließ sich aber das hochverehrte Publikum besonders faszinieren? Neben den von Mozart brillant und souverän abgelieferten Interpretationen und Improvisationen auf mehreren Instrumenten (vor allem Klavier und Geige) standen verschiedene Punkte auf dem Präsentationsprogramm, die man leider als nichts anderes als Zirkus oder Show charakterisieren kann: Spielen mit umgedrehten Händen, geschlossenen Augen, auf mit Tüchern bedeckter Tastatur und dergleichen. Was hatte das mit der hohen Kunst, der sich Mozart zugewandt fühlte, zu tun? Ihm können solche Auftritte bestimmt nicht vorgeworfen werden, denn er wurde gezwungen, Schritt zu halten. Gerechtfertigt vor allem durch sein sehr junges Alter und die daraus resultierende Abhängigkeit vom Vater, der, das allgemeine mangelhafte Musikverständnis des damaligen Publikums verstehend, doch der Meinung zu sein schien, dass man sich damit mehr oder weniger konform arrangieren sollte, um etwas zu erreichen. Dies war übrigens der Grund, warum der junge Beethoven (zwar etwas älter als Mozart damals) sich heftig weigerte, als sein Vater aus ihm ein zweites „Mozart-Wunderkind“ kreieren wollte und ihn zwang, von Musik nichts verstehenden, aber mächtigen Personen vorzuspielen, um deren Förderung zu gewinnen - aber eher, um sein eigenes Ego zu befriedigen. Beethoven war dies absolut zuwider.
Keine Frage – der junge Mozart hatte bestimmt auch seinen Spaß daran, die „hochverehrten“ Personen mit seinen spieltechnischen Tricks zu belustigen, denn er war letzten Endes ein noch ganz junger, erwartungsvoller, neugieriger und freudiger Mensch. Aber diese ständigen Reisen, mit permanent wechselnden Aufenthaltsorten und teilweise begleitet durch heftige Wetterbedingungen und Krankheitswellen, die in einem solchen zarten Alter gewiss nicht einfach wegzustecken waren – waren alle diese Opfer es wert? Damals, nach den triumphalen drei Jahren erschien es, als ob die Rechnung aufgegangen und vor Mozart eine glorreiche Laufbahn wie ein roter Teppich ausgerollt worden wäre. Aber es genügt, sich den weiteren Verlauf seines Lebens näher zu betrachten, um sich vergewissern zu können, dass alle diese Maßnahmen und Opfer nicht mehr als einen kurzfristigen, aber keinen andauernden Effekt hatten.
Die Zeit verging, Mozart wuchs, und so änderte sich auch seine Wahrnehmung der Realität, in der er schuf. Er konnte kaum an seine bisherigen Erfolge als junges Wunderkind knüpfen – er versuchte zwar, diese Kontakte aufzufrischen, um dadurch Kompositionsaufträge oder Anstellungen als Komponist zu bekommen, aber so gut wie vergeblich. Nur Wenige setzten sich für ihn ein und halfen ihm nach Möglichkeit weiter, für die Meisten war er aber zu seriös und anspruchsvoll – die Zeit der jungen Triumphe mit lustigen Spielereien war vorüber, und es fing ein erwachsenes Leben an, das nicht einer unbekümmerten Jugendzeit glich. Und schon ganz bald konnte Mozart die Undankbarkeit und Bitterkeit eines Künstlerlebens erfahren. Mächtige dieser Welt hatten, mit ganz wenigen Ausnahmen, keine Ahnung von der richtigen Kunst, es herrschten Neid und Intrigen – besonders herausragenden Persönlichkeiten wie Mozart gegenüber, die man zu blockieren, zu isolieren und auszugrenzen suchte. Vieles, wenn nicht das meiste, hing von der Lust und Laune Anderer ab, die einen heute zur glänzenden Prominenz werden und morgen gnadenlos abstürzen lassen konnten. Diese andauernde Abhängigkeit und die damit verbundene Unsicherheit konnten sich auf Mozarts Zustand nicht positiv auswirken, auch gesundheitlich, worüber auch geschrieben wurde. Als er – quasi aus höfischer Gnade – eine „Trostanstellung“ als Komponist in Wien bekam, aber so gut wie keine nennenswerten künstlerischen Verpflichtungen hatte, sagte er bitter, dieses Geld sei zu viel für das, was er tue, und zu wenig dafür, was er tun könnte.
Trotz aller weiteren Triumphe, die Mozart noch erlebte (besondere Freude bereiteten ihm beispielsweise erfolgreiche Aufführungen seiner Musik in Prag), zeugte seine Erfahrung ganz klar davon, dass Kontakte und Bekanntschaften in „höheren“ Kreis keine Garantie für eine gesicherte und erfüllte künstlerische Existenz sind. Das Pendel seines Lebens schwang nicht selten von bejubelten Aufführungen mit sprudelnden Einnahmen bis zum gesellschaftlichen Desinteresse und immer wieder neuen Schulden, die er bei seinen Freunden machen musste, um seine Familie halbwegs über die Runden kommen zu lassen. Nur die Musik war ihm ein Trost – eine Traumwelt, in der er aus der Realität verschwand und sich in seiner schöpferischen Selbstaufopferung vergaß. Aber auch sein Schaffen konnte ihn nicht mehr retten – das unvollendet gebliebene „Requiem“, an dem Mozart mit viel Leidenschaft und Hingabe aller verbleibenden Kräfte arbeitete, beschleunigte schlussendlich seinen Tod. Die Sanduhr seines Lebens war schon leer…

Wenn wir heute an Mozart und seine uns mit viel Freude, Trost und Erlösung beschenkenden Musik denken, mögen wir uns nicht nur an seine glorreiche Zeit an den Höfen europäischer Monarchen erinnern – mögen wir dabei aus dem Blick nicht verlieren, welchen Preis er dafür zahlte, und dass sich nach seinem Tod keiner von den hochverehrten Damen und Herren fand, um den großen Komponisten vor der Beisetzung in einem billigen, namenslosen Massengrab zu bewahren.

Text: Dr. Roman Salyutov, 2020