Unvollendete Vollkommenheit - Gedanken über Mozarts Requiem

Eines der beliebtesten und bedeutendsten Werke Mozarts – das “Requiem” – krönt seinen kompositorischen Weg. Eigentlich für den kirchlichen Gebrauch und dabei auch als Auftragskomposition gedacht, ist diese Musik so emotional und tiefgründig, dass man sie nicht mehr als rein für den kirchlichen Bereich begreift, sondern sich von ihrer Intensität enorm angesprochen fühlt und somit als ein ganzes Universum empfindet.

Dabei ist allgemein bekannt, dass Mozart sein letztes Werk nicht zu Ende gebracht hat. Bis zu seinem Tode am 5. Dezember 1791 hat er den Eröffnungssatz von Introitus (Requiem aeternam), das folgende Kyrie und den größten Teil der Dies-irae-Sequenz (von Dies irae bis Confutatis) geschrieben. Der letzte Satz der Sequenz, das Lacrimosa, brach schon nach den ersten acht Takten ab und blieb unvollständig. Die folgenden zwei Sätze des Offertoriums, das Domine Jesu Christe und das Hostias, waren teils ausgearbeitet. Sanctus mit Benedictus, Agnus Dei und Communio fehlten dagegen ganz. Somit ist das Requiem, das wir heute so lieben und gerne hören, kein genuin Mozart’sches Werk.

Die musikalische Geschichte kennt mehrere Werke großer Komponisten, die aus verschiedenen Gründen unvollendet geblieben sind: Das sind beispielsweise Schuberts Unvollendete Sinfonie h-Moll und seine Klaviersonate C-Dur, Mahlers Zehnte Sinfonie, sowie die Zehnten Sinfonien von Beethoven und Bruckner. Aber wenn die Letzteren aufgrund ihrer erheblichen Unvollständigkeit im Konzertrepertoire nicht vertreten sind, so werden die erwähnten Werke von Schubert und Mahler dennoch häufig aufgeführt. Das Beispiel von Mahler ist besonders spektakulär: Vom Komponisten stammt faktisch nur der erste Satz, wobei die anderen nur in mehr oder weniger schlussreichen Skizzen existieren. Somit wurde seine zehnte Sinfonie erstmal nur in der gekürzten Fassung aufgeführt – also nur der erste Satz. Jahrzehnte später wurden aber die vorhandenen Skizzen der anderen Sätze von einem Musikwissenschaftler so ausgearbeitet und vervollständigt, dass daraus eine zweite Fassung der Sinfonie entstand, die zwar nicht wenig umstritten ist, aber ab und zu doch gespielt wird. Dabei ist wichtig, dass Mahlers Arbeit an seiner Zehnten Sinfonie genau wie bei Mozart durch seinen krankheitsbedingten Tod unterbrochen wurde. Durch derartige Umstände haben diese Werke eine besondere Bedeutung – man erlebt hier Gedanken und Emotionen ihrer Schöpfer gerade an der Grenze zum Jenseits. Die Unvollständigkeit erlangt somit eine besondere Dimension. Und wenn diese Musik aber von Anderen zu Ende komponiert wird, werden es schon andere Werke – durch ihre Vollständigkeit werden sie wie “geerdet”, und die geheimnisvolle Bedeutung ihrer Verbindung zu einer anderen Sphäre, zum Göttlichen, geht erheblich verloren.

Im Falle des Requiems hat dessen Vervollständiger, Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr, durch das Zurückgreifen auf die von Mozart stammende Kyrie-Fuge für den Abschluss des Werkes sehr geschickt gehandelt: Er hat dadurch das Mozart’sche wiederhergestellt und den Kreis geschlossen. So sorgt der Schlussakkord der Fuge – in der unvollständigen Form mit dem fehlenden Terzton – natürlich hervorragend für das Gefühl der Ewigkeit. Aber nichtsdestoweniger stellt sich die interessante Frage, wie das Requiem wahrgenommen wird, wenn man es mit Lacrimosa abschließt, – mit dem an den Himmel appellierenden letzten “Amen”? Nach den höllischen Flammen des Confutatis kommt dann Gottes Gericht, wo man gnädig und barmherzig behandelt werden möge, um in das Himmelreich aufgenommen zu werden. Ist das nicht – mit etwas mehr Weitsicht und Fantasie gedeutet – genau der Punkt, wo Mozarts irdischer Lebensfaden abreißt? Der auf Seufzermotiven basierende Satz Lacrimosa (“tränenreich”) trauert um seinen Tod und weist im letzten Akkord (von d-Moll nach D-Dur) auf eine Verklärung – seine Aufnahme in das Himmelreich – hin. Leid und Erlösung.

Werke großer Künstler, zumal unter solchen Umständen geschaffen, werfen immer zahlreiche Fragen auf, bleiben somit unergründlich und bieten immer weiter reichlich Stoff für diverse Deutungsansätze und Annäherungsversuche. Vielleicht wäre es gar nicht falsch, Mozarts Requiem in seiner unvollständigen Version dem Publikum anzubieten. Diese Aufgabe erfordert natürlich eine ganz besondere interpretatorische Herangehensweise. Sicherlich wäre das Werk damit rein kompositorisch nicht logisch zu Ende geführt – aber ist die Möglichkeit einer neuen Offenbarung nicht eigentlich wichtiger, als jegliche bewahrte Logik?

Text: Dr. Roman Salyutov, 2017