So viel Freiheit noch nie erlebt! ...

Es gibt heute bestimmt keine Klassikfreunde mehr, die das Klarinettenkonzert von Mozart nicht kennen – alle mögen dieses unglaublich viel Wärme ausstrahlende Werk, in dem Mozart so liebevoll und lebensgewandt erscheint. Nicht alle dagegen wissen, dass die heutige Klarinette – Klarinette in A – die für die Aufführung des Konzerts verwendet wird, nicht das Instrument ist, das Mozart dabei im Sinn hatte...

Das Konzert schuf Mozart für seinen Freund Anton Stadler, der bei ca. 1788 die sogenannte Bassettklarinette zusammen mit dem Wiener Hofinstrumentenmacher Theodor Lotz entwickelte. So sah dieses Instrument aus (nach einer Originalzeichnung von Theodor Lotz nachgebaut).

Gerade für diese Klarinette, die im Vergleich zur üblichen A-Klarinette tiefer klingt und einen weicheren und etwas intimeren Ton hat, schrieb Mozart sein Klarinettenkonzert, das nach seinem Tod der A-Klarinette angepasst wurde, die eine zunehmende Verbreitung erlebte.

Heutzutage kommt es äußerst selten vor, dass man dieses Werk auf dem Originalinstrument erleben kann, und von diesem Gesichtspunkt aus verdiente der Auftritt des italienischen Klarinettisten Lorenzo Coppola mit dem Freiburger Barockorchester unter Leitung von Gottfried von der Goltz am 15. Februar 2016 in der Kölner Philharmonie große Aufmerksamkeit.

Der italienische Meister, der zu den wenigen Künstlern der Welt zählt, die die Bassettklarinette spielen, erzählte etwas zur Gesichte des Instruments, stellte das Publikum ein und... und dann begann etwas beinahe Magisches! Er ließ Mozarts Konzert ganz anders erleben. Es war keine übliche konzertante Aufführung, sondern eine wahre musikalische Erzählung. Lorenzo Coppola ließ seine Klarinette mit verschiedenen Stimmen sprechen, als ob Figuren aus Mozarts Opern direkt dort auf der Bühne lebendig geworden wären. Es waren männliche und weibliche Stimmen, es waren hinreißende Szenen und Dialoge, es waren Nachdenklichkeit und Schwung, Zärtlichkeit und Zorn, Traurigkeit und pure Freude – es war eine ganze Welt, die der Maestro durch seine Kunst vor den Augen der Zuhörer kreierte.

Er gestaltete seine Partie ohne jegliche Klischees, die bei der Aufführung der Wiener Klassik häufig hören sind, sondern mit sehr viel Freiheit und Flexibilität im Tempo und Ausdruck. Jeder kleinen melodischen Wendung schenkte er so viel Aufmerksamkeit, sodass diese nicht wie gespielt, sondern wie ausgesprochen klang. Auch zahlreiche virtuose Elemente der Komposition erschienen von einer anderen Seite: Nicht der spieltechnische Glanz stand im Vordergrund, sondern die melodische Struktur. Jeder einzelne Ton aller langen, geschwind ablaufenden Linien war gut herauszuhören und kam durch den besonderen Toncharakter des Instruments sehr rund und ausgeprägt vor. Nichts wirkte im Mindesten gehetzt, sondern alles hatte einen natürlichen, menschlichen Atem. Man wollte es immer weiter genießen und wünschte sich kein Ende dieses Erlebnisses...

Eine derart freie und fantasiereiche Mozart-Interpretation bringt auf folgende zwei Gedanken.

Erstens, die Grenzen der ästhetischen Aufführungsflexibilität von Mozarts Werken scheinen deutlich weiter zu liegen, als das sich in den meisten modernen Interpretationen zeigt. Und wenn man diese Flexibilität beherrscht und überzeugend zum Ausdruck bringt, dann bereichert sie die Musik erheblich und es erschließen sich ihre neuen Seiten. So erscheint die Klassik nicht mehr so gemessen raffiniert und in den rhythmischen Rahmen „eingepackt“, sondern birgt viel mehr Leben und Stimmung.

Zweitens, man sollte sich – vor allem als Interpret– mehr mit der historischen Aufführungspraxis und dem historischen Instrumentenbau auseinandersetzen, auch wenn man diese Musik auf modernen Instrumenten vorträgt. Sehr häufig – und die Interpretation von Lorenzo Coppola war ein guter Beweis dafür! – hängt der Geist der Musik mit dem jeweiligen Instrument zusammen, für das sie gedacht wurde. Und wenn dieses Instrument dann aus dem Gebrauch verschwindet, dann geht ein Teil dieser Musik damit auch verloren. Natürlich ist die Entwicklung des Instrumentenbaus nicht zu stoppen, und so ist es gut – modernere Instrumente bringen ein unglaubliches Potential mit sich. Aber nicht alle Musik muss unbedingt geistig komplett modernisiert und dem neusten Stand der Instrumente angepasst werden, eher umgekehrt – wenn man versucht, auf neue Instrumenten verschiedene spezifische, musikalisch bedingte Nuancen der historischen Aufführungspraxis zu berücksichtigen, dann entsteht daraus eine komplexere Interpretation, die sowohl moderne, aber auch nicht weniger traditionelle Merkmale in sich vereint. Der Weg zu den Ursprüngen kann sehr bereichernd und bedeutend sein.

Diese wunderbare Interpretation, eine Art Offenbarung hat allen Zuhörern viel Freude und großes ästhetisches Vergnügen beschert – vielen Dank dem großen Meister Lorenzo Coppola und seinem feinen Gefühl für Mozarts Musik.

Text: Dr. Roman Salyutov, 2016