W. A. Mozart, F. Liszt und dessen „Réminiscences de Don Juan“

In seiner Karriere als Klaviervirtuose, die Franz Liszt über Jahrzehnte so beeindruckend aufbaute, nahmen Werke von Mozart keinen beachtenswerten Platz ein. Es wäre aber sicher falsch zu denken, Liszt hätte seine Musik nicht gemocht. Ganz im Gegenteil: Die Klassiker fanden jederzeit sein reges Interesse, er studierte ihre Partituren und versuchte, ihre Kompositionen auch in seinen Konzerten zu Gehör zu bringen. Aber der Geschmack des durchschnittlichen damaligen Publikums wies noch einen gewissen „Tiefstand“ auf. Die meisten Zuhörer lauschten vorzugsweise bravourösen, inhaltreich oberflächlichen Stücken und blieben erstaunlich zurückhaltend und sogar kalt, wenn seriöse Musik erklang.

Liszt, der in seinen Programmen auch ein Tribut daran zollen musste, ging aber oft andere und neue Wege, um das Publikum mit der Klassik vertraut zu machen.
Eine von solchen Möglichkeiten waren verschiedenartige Bearbeitungen klassischer Musikwerke für Klavier, die dann konzertant vorgetragen wurden. Neben vielen sogenannten Transkriptionen sinfonischer Werke für Klavier solo finden sich bei Liszt auch Werke über Themen aus diversen Opern – Fantasien, Paraphrasen, Reminiszenzen. Zu den populärsten Stücken dieser Gattungen zählen unter anderem seine Fantasien über Themen aus Mozarts Opern „Don Giovanni“ und Figaros Hochzeit“.

Es muss natürlich erwähnt werden, dass Mozarts Opern im 19. Jahrhundert immer populär und beliebt waren – sie waren auf allen großen Bühnen Europas präsent. Anders sah es aber im Bereich öffentlicher Konzerte aus, der sich damals erst allmählich etablierte. In seinen Mozart-Fantasien löste Liszt die Aufgabe, die Klassik unter dem Publikum zu verbreiten, auf eine sehr geschickte Art: Er schrieb spieltechnisch sehr komplizierte, fast am Rande des Aufführbaren stehende Werke, brillant und schwungvoll, was beim Publikum sehr gut ankam, inhaltlich aber basierend auf den wahren Charakteren und Gesten, die aus Mozarts Musik hervorkamen. Vorsichtig gesagt, Liszt „modernisierte“ Mozart gestaltete seine Stücke so um, damit sie von den Zuhörern besser wahrgenommen werden konnte.
Wenn die Fantasie über Themen aus „Figaros Hochzeit“ einfach eine Fantasie ist, so sieht es bei „Don Giovanni“ etwas anders aus: Liszt setzt seine Reminiszenzen an Don Giovanni (auf Spanisch Don Juan) klanglich um, seine Erinnerungen oder – noch treffender ausgedrückt – seine Gedanken darüber.

Was faszinierte Liszt in Mozarts Oper? Was gab ihm schöpferische Impulse?
Dafür muss man schauen, wie Liszt sein Werk aufbaut und welche Themen er wie verwendet.

Allgemein gegliedert besteht die „Reminiszenz“ aus vier Abschnitten. Im ersten Abschnitt herrscht der Geist des von Don Giovanni ermordeten Komturs: Liszt greift auf die Themen aus dem Finale der Oper, wo die Statue des Komturs erscheint, führt sie mehrmals durch, immer intensiver und in donnernd klingender Faktur, sodass man sich sofort von einer durch den Komtur von jenseits kommenden gewaltigen Kraft konfrontiert fühlt. Es klingt wirklich schicksalshaft – faszinierend und erschreckend gleichzeitig.
Für einen Dekorationswechsel – wie in einer Oper – sorgt eine kleine Überleitung, die das Getümmel des ersten Abschnitts ablöst und eine andere Sphäre einführt.
Der zweite Abschnitt wird als Thema mit zwei Variationen aufgebaut. Variiert wird dabei das Thema aus dem Duett von Don Giovanni und Zerlina „La ci darem la mano“. In der ersten Variation versucht Liszt, durch eine um die Töne des Themas kreisende und durch die Chromatik bereicherte Bewegung den zärtlichen Charakter der Musik zu verstärken. Vor allem die Phrasen Don Giovannis klingen dadurch verführerischer, in Zerlinas Zwischenrufen wird dagegen ihre Unentschlossenheit betont, ob sie ihm nachgeben soll. Durch die sich immer steigernde Pathetik der Rede gibt Zerlina nach und vereint sich mit ihm im parallel geführten Gesang „Andian, andian, mio bene“. Bei Mozart geht die Szene in dieser liebevollen Stimmung zu Ende, aber Liszt erweitert diese glückliche Idylle und gestaltet eine weitere Variation, die auf den punktierten Abschlusswendungen des Duos basiert und durch eine starke Dynamik jubelnd klingt – Don Giovanni hat ja noch ein junges Frauenherz erobert!... Doch mitten in diesem Jubel hinein dringt das Bild des Komturs, der den frechen Wüstling verfolgt – hier fängt der dritte Abschnitt des Werkes an.

Liszt greift dabei auf dramatischen Minuten des Dialogs von Don Giovanni und dem Komtur aus dem Finale der Oper und zwar auf die Stelle, an der Letzterer den Frauenheld fragt, ob er genug entschlossen sei, ihm zu folgen. Die massiven, wie schwere Schritte klingenden Akkorde, mit denen Liszt dem Bild des Komturs wütende und drohende Züge verleiht, lassen keine Spur von der wolkenlosen Seligkeit und bringen mit sich eine enorme emotionale Steigerung. Zwischendurch kann man aber noch sehr gut die punktierten Motive aus dem vorherigen jubelnden Auftritt Don Giovannis erkennen, die die dessen anhaltenden Widerstand betonen. Auch bei Mozart will Don Giovanni im heftigen Zweikampf mit dem Komtur keinesfalls aufgeben. Doch danach kommt ein Wendepunkt: Der Moment, als der Komtur sagt, die Todesstunde Don Giovanni sei gekommen. Liszt zitiert diese langen, gewichtigen, wie ein unanfechtbares Urteil klingenden Töne genau. Aber hier fängt Liszt an, sein eigenes Szenario zu schreiben. Bei Mozart nimmt an dieser Stelle die Höllenfahrt Don Giovannis ihren Anfang und alles versinkt in turbulent aufwirbelnden Flammen. Liszt lässt die Entwicklung anders laufen und führt ein anderes Thema von Mozart ein: das Thema der sogenannten Champagne-Arie, die die abenteuerliche und rücksichtslose Natur Don Giovannis zum Ausdruck bringt. Bevor Liszt unmittelbar mit der Champagne-Arie anfängt, lässt er in einer Überleitung deren einzelne Motive mit den schweren Tönen des Komturs kollidieren, was eine große Steigerung auslöst und letztendlich das Don-Giovanni-Thema zur Dominanz bringt – er hat sich durchsetzen können!
Der vierte Abschnitt der „Reminiszenz“ ist eine klaviertechnisch sehr herausfordernde und emotional hinreißende Umsetzung der eigentlichen Champagne-Arie. Immer impulsiv, unermüdlich steigernd, auftrumpfend und berauschend, gelingt Liszt in dieser Episode eine Darstellung von Don Giovanni als Träger der Dionysos’schen Natur (Dionysos war in der griechischen Götterwelt der Gott des Weines, der Ekstase, der Freude und des Wahnsinns). Mit dieser ekstatischen Stimmung, auf dem Höhepunkt des Jubels wird Liszts Reminiszenz an Don Giovanni gekrönt. Buchstäblich in den letzten Sekunden – wie der ewige Fluch Don Giovannis - erscheint wieder das Bild des Komturs.. Aber den jubelnden Frauenjäger und Herzensbrecher stört das nicht – er genießt sein Leben weiter...

Vielleicht ist Liszt die Verkörperung dieses Bildes so gelungen, weil er – selbst ein Frauenheld! – sich darin sehr gut und überzeugend hinein zu versetzten vermochte..? Interessanterweise lässt sich hier eine Parallele mit Mozart verfolgen: Im berühmten Film „Amadeus“ von M. Forman erzählt Salieri über Mozarts „Don Giovanni“ und sagt dabei, er und nur er allein wisse, dass in der furchtbaren Gestalt des toten Komturs Mozart seinen Vater Leopold auferstehen lasse. Warum? Damit er seinen Sohn – Mozart in der Gestalt von Don Giovanni – vor der ganzen Welt beschuldige... Sah sich Mozart selbst als eine Art Don Giovanni? Und Liszt? Wer weiß... Zweifelsohne kann man nur spüren, dass die beiden Komponisten in einer besonderen Beziehung zu dieser Figur standen – sonst hätten sich nie solche faszinierenden, in deren Ausdruckskraft absolut einzigartigen Meisterwerke schaffen können.

Text: Dr. Roman Salyutov, 2016