Täuschender Glanz eines Künstlerlebens – von Mozarts Wiener Jahren.

Wo kann man als Publikum Künstler erleben? Selbstverständlich da, wo sie ihre Kunst öffentlich präsentieren – auf Konzertbühnen, in Theatern, Museen Galerien. Diese kurzen Begegnungen der Zuschauer mit Künstlern tragen häufig zur falschen Wahrnehmung bei, ein Künstlerleben sei genauso glänzend und unbekümmert, wie die Künstler eben öffentlich erscheinen. Sie sind gut gelaunt, sehen schön aus, stehen am Ende des Abends im Rampenlicht und genießen einen begeisterten Applaus. Sie sind die Helden der Stunde. Nur Wenige aus dem Publikum machen sich aber Gedanken darüber, wie ein Künstlerleben jenseits der großen Bühne verläuft, denn die Leute gehen in Veranstaltungen, um positive Emotionen zu erleben, also müssen die Künstler liefern – egal, wie es ihnen gerade geht und was sie außerhalb ihrer Auftritte beschäftigt. Die Künstler sind also im weitesten Sinne des Wortes perfekte Schauspieler – in ihren Veranstaltungen ziehen sie quasi eine Art angenehm wirkende szenische Maske an, was das Publikum dann zum größten Teil irrtümlich auf ihr ganzes Leben pauschal überträgt. Die Zauberei der Bühnenstunden ist aber zeitlich begrenzt, und nach ihren Vorstellungen kehren auch die Künstler in ihr wahres Leben zurück …

Die zehn freischaffenden Jahre in Wien 1781-1791 stellen den absoluten kompositorischen Höhepunkt in Mozarts Leben dar. Er befreite sich endgültig von den Fesseln seiner Salzburger Anstellung und konnte sich nun viel mehr auf sein Schaffen konzentrieren. Endlich war er in Wien, in einer der musikalischen Hauptstädte Europas und verband damit weitreichende Hoffnungen. Und auf den ersten Blick schien es auch so, als ob Mozart damit wirklich Glück hatte: Seine Engagements als Pianist wurden recht gut dotiert, er hatte Kompositionsaufträge, sein Name wurde zum festen Begriff in der Wiener Öffentlichkeit – zur Freude seiner Verehrer und zum Neid seiner Gegner. Was könnte man sich als Freischaffender noch wünschen? Der Lebensunterhalt und die Bedingungen zum Schaffen schienen gesichert zu sein. Doch es ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ja, tatsächlich verdiente Mozart mit seinen Engagements gut und war bei Weitem kein verarmter Musiker, wie dies in einigen Legenden noch bis heute dargestellt wird. Aber diese Engagements waren nie regulär. Dazu ist es zu betonen, dass Mozart trotz seiner Erwartungen keine erhoffte Stelle als Musiker am Kaiserhof bekam – man bewilligte ihm eher aus Mitleid eine Art „Arbeitslosenpension“ ohne feste nennenswerte Aufgaben. Mit Bitterkeit schrieb er darüber, dieses Geld sei zu viel dafür, was er tun müsse, aber zu wenig dafür, was er tun könnte. Grund dafür waren mehrere Faktoren wie beispielsweise Neid einiger einflussreicher Musiker und Funktionäre in Wien, die Mozart nach Möglichkeit auszubremsen suchten, aber auch in erheblichem Maße die Tatsache, dass das Wiener Publikum und allen voran der Kaiser selbst Mozarts Musik nie wirklich verstanden – sie war für sie zu ernst, zu inhaltreich und allzu sehr zum Nachdenken animierend. Sie wollten Spaß – aber der Komponist wollte in seinem Schaffen über wirklich wichtige Sachen sprechen und nachdenken.
Mit seinem guten Gespür für die Situation erkannte Mozart die reale Lage der Musikszene in Wien und akzeptierte gewissermaßen diese Spielregeln, denn sein Genie ermöglichte ihm auch fröhliche, leichtere und schwungvolle Werke genauso brillant zu verwirklichen. Dies erinnert an den Kompromiss, den einige Jahrzehnte später der junge Franz Liszt mit sich selbst schloss: Bedrückt sprach er davon, nach der Aufführung von Musikstücken zweifelhafter künstlerischer Qualität stürmischen Applaus zu haben und dagegen mit absolutem Schweigen konfrontiert zu sein, als unter seinen Fingern Werke großer Meister erklängen. Aber er wollte Anerkennung und Ruhm und zollte somit in seinen Konzerten noch eine Zeit lang Tribut an den damaligen Tiefstand des Publikumsgeschmacks. So musste sich auch Mozart mit der Lage in Wien arrangieren.

Um die Mitte der Wiener Jahre, als seine Beliebtheit beim Publikum einen Höhepunkt erreichte, machte sich bei Mozart eine Tendenz bemerkbar: Er schrieb mehrere Kompositionen in Moll-Tonarten, und dabei in verschiedenen Gattungen. Grundsätzlich findet man in seinem Schaffen nur eine Handvoll Werke in Moll, und umso spannender ist es, dieser Musik etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Es sind vor allem zwei Klavierkonzerte d-Moll KV 466 und c-Moll KV 491, die sich im Sinne der Intensität von Dramatik, Emotionalität und Ausdruckskraft klar abheben und sogar Beethovens Klavierkonzerte, vor allem das Klavierkonzert c-Moll Op. 37, unmittelbar vorbereiten. Dabei verschmelzen der Solo- und Orchesterpart zu einem beeindruckenden Ganzen, wodurch keiner eine über- oder untergeordnete Rolle mehr spielt, sondern beide an der klanglich-emotionalen Gestaltung der Werke entscheidend beteiligt sind. Der damalige Rahmen einer wohlklingenden und unterhaltungsorientierten Kunst – als Ideal des Publikums - wird hier entschlossen überwunden.
In diesem Kontext sind auch zwei folgende Werke für Klavier solo von großer Bedeutung: Sonate c-Moll KV 457 und Fantasie c-Moll KV 475. Wenn sich die Sonate in die Richtung der beiden oben erwähnten Klavierkonzerte klar fügt und mit seinem – für Mozarts Verhältnisse – ungewöhnlich stürmisch-heroisch klingenden c-Moll beispielsweise die künftigen Klaviersonaten c-Moll Nr. 5 und Nr. 8 von Beethoven erahnen lässt, so bricht der Komponist in seiner Fantasie alle möglichen Grenzen und vertieft sich in eine Welt von konzentrierten, quälenden und unaufgelöst bleibenden Gedanken. Jenseits von jeglicher klarer oder, besser gesagt, vorhersehbarer Formgestaltung, was schon eine Brücke in die Romantik mit all ihren Zweifeln, Zerrissenheit und Unzufriedenheit schlägt. Erwähnung verdient auch die etwas später entstandene Sinfonie g-Moll KV 550 (1788). Somit vollzieht sich diese Kehrtwende zeitlich konzentriert und in mehreren Bereichen – von Instrumenten solo bis zur Sinfonie.

Wenn wir versuchen, hinter die Kulisse zu schauen, werden wir erkennen, dass Mozarts auf den ersten Blick glänzend erscheinendes Leben in der „Hauptstadt der Musik“ ihm mehr als genug Anlässe gab, unzufrieden und sogar verzweifelt zu werden. Seiner Heirat mit Constanze Weber 1872 folgte der Tod vierer von seinen sechs Kindern. Sein Vater – eine enorm wichtige Bezugsperson für ihn – starb 1787. Zu diesen Schicksalsschlägen privater Art kamen die immer noch instabile Position und finanzielle Abhängigkeit von Aufträgen und Kaisers Gnade, das seiner Musik vom Publikum immer wieder entgegengebrachte Unverständnis und die daraus resultierende innere Unzufriedenheit sowie der immer deutlicher werdende Riss zwischen sich selbst und der Gesellschaft. Mozarts Natur war einfach sehr lebensgewandt und aufs Positive orientiert, um hinter der Fassade seiner Fröhlichkeit und Unbekümmertheit eine Schattenseite schnell erkennen zu können. Aber diese Schattenseite gab es auch, und die Tatsache, dass diese einige, wenn auch substanzielle, Werke in Moll von seiner anderen Musik umgeben sind, darf uns nicht täuschen – für diese vergleichsweise seltenen, aber um so wichtigeren Einblicke in seine innere Welt müssen wir Mozart sehr dankbar sein, denn er teilte mit uns hier seine tiefsten und intimsten Gedanken, die von der Mehrheit damals nicht wahrgenommen wurden.

Um von den Künstlern eine möglichst umfangreiche Vorstellung zu haben und ihre Kunst somit angemessen zu würdigen, wäre es daher notwendig, den Blick ab und zu von der Lichtrampe in den Schatten der Bühnenpräsenz zu richten – da spielt sich nämlich ihr reales Leben ab, da schöpfen sie Impulse für ihr Schaffen. Mozart war wahrlich ein perfekter Schauspieler auf der Bühne, aber man darf dabei nicht außer Acht lassen, welchen Preis er für diese szenische Perfektion zahlen musste.

Text: Dr. Roman Salyutov 2020